Neue Wege-Gespräch von Léa Burger mit Barbara Gysi und Cédric Wermuth. Erschienen in Neue Wege Nr 7/8 2016.
Demokratisierung unserer Wirtschaft – und der Gesellschaft
Eine Standortbestinnung sozialdemokratischer Praxis sechs Jahre nach der Verabschiedung des SP-Parteiprogramms und Erinnerungen an Willy Spielers Wirken
Die Schweiz definiert sich oft über das Prinzip der Demokratie. Das gilt vor allem für die Politik, kaum für wirtschaftliche Strukturen. Woher diese Diskrepanz?
Barbara Gysi Zum einen werden in Bezug auf die Wirtschaft Verhaltensweisen und Normen wie Egoismus, Schlitzohrigkeit oder auch autoritäres Gehabe akzeptiert, die mit Blick auf Politik oder private Beziehungen ganz anders bewertet werden. «Das braucht es halt, um Erfolg zu haben», heisst es dann. Hier müssen wir unbedingt auf einen Mentalitätswandel hinwirken. Auf der anderen Seite meinen viele Leute, unsere Wirtschaft sei gar nicht so undemokratisch, wie sie effektiv ist. Gerade in KMUs, also mittleren bis kleinen Unternehmen, wird ein demokratischer Umgang vermutet. Das höre ich immer wieder in Gesprächen mit Leuten aus der Wirtschaft.
Aber ich nehme die politische Demokratie ähnlich wahr wie die wirtschaftliche: Es sind ein paar wenige, die den Ton angeben – und wir nennen es Demokratie. Ich setze also auch ein Fragezeichen hinter die Demokratie im politischen System.
Cédric Wermuth Das ist natürlich der Geburtsfehler des Liberalismus an und für sich! Auch die bürgerliche Demokratie ist letztlich ein Herrschaftskonstrukt. Es ist der Versuch, Mitsprache der breiten Bevölkerung bei Fragen von Machtverhältnissen und materiellen Interessen nur in einem bestimmten Rahmen geschehen zulassen. Darum wird Wirtschaftsdemokratie auch nicht auf einer rein rationalen demokratischen Ebene verhandelbar sein, sondern ist immer auch Auseinandersetzung um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, Freiheit und Emanzipation.
Warum ist für viele Menschen die Trennung zwischen Demokratie und Wirtschaft so klar? Einerseits wird sie erlebt. Sie ist also real. Andererseits glauben wir, es sei normal, dass die demokratische Spielregel «one man, one women, one vote» nur für einen bestimmten Raum gelte. Verlässt du diesen, gelten plötzlich andere Regeln – obwohl du dich im selben Land befindest. Wie stark solche Gedankenbilder im Alltag wirken, beeindruckt mich immer wieder. Wie schon Marx sagt: Die herrschenden Ideen sind schliesslich auch die Ideen der Herrschenden.
Wir Sozialdemokraten haben uns von den Rechten den Demokratiebegriff wegnehmen lassen. Heute wird der Begriff der Demokratie absurderweise von den Marktradikalen vereinnahmt und von Rechts immer mehr völkisch definiert. Ich denke an Freihandelsabkommen wie Tisa oder aktuelle Debatten zu Landesrecht vor Völkerrecht.
Solchen Entwicklungen will die SP mit dem Parteiprogramm «Für eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie» entgegenwirken. Das klingt visionär. Wo stehen wir auf dem Weg dahin?
Barbara Gysi Es ist nun sechs Jahre her, seit wir das Parteiprogramm verabschiedet haben. Im sozial-ökologischen Bereich haben wir einiges angepackt, etwa für einen ökologischen Umbau rund um die Energiewende. Zum Thema Wirtschaftsdemokratie haben wir eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Sie hat nun ein achtseitiges Papier verfasst, das am nächsten Parteitag diskutiert wird. Wir stellen uns zum Beispiel die Schaffung eines Fonds vor, der gezielt demokratische, ökologische und solidarische Unternehmen unterstützen soll. Er kann zum Beispiel bei der Umwandlung von KMUs in mitarbeitergeführte Genossenschaften zum Einsatz kommen, wenn die bisherigen Eigentümer das Unternehmen verkaufen oder schliessen wollen.
Bei den heutigen politischen Mehrheitsverhältnissen sehe ich allerdings gewisse Schwierigkeiten, dass unsere Anliegen durchkommen. Deshalb setzen wir vor allem darauf, das öffentliche Bewusstsein für bestehende Alternativen (zum Beispiel das Genossenschaftswesen, die Économie Sociale et Solidaire oder die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung) zu schärfen und die Vernetzung der verschiedenen Initiativen und AkteurInnen zu stärken.
Willy Spieler wurde beim Ausarbeiten des Parteiprogramms von Hans-Jörg Fehr mit der Arbeitsgruppe Visionäres beauftragt. Du, Cédric, hast damals mit Willy zusammen gearbeitet.
Cédric Wermuth Willy hatte schon damals den Verdacht, der heute wohl bestätigt ist: Es ist wichtig und richtig, visionäre Fragen aufzugreifen. Wenn aber die Debatte in einen «visionären Teil» ausgelagert wird, droht sie von der Tagespolitik verdrängt zu werden. Die repräsentative Demokratie beschneidet fast alle Räume, in denen über ihre eigenen Strukturen und darüber hinaus nachgedacht werden kann. Das Hamsterrad der Alltagspolitik ist extrem eng. Vor allem hat es sich als Illusion erwiesen, die Frage nach der Wirtschaftsdemokratie alleine parlamentarisch anzugehen.
Ich habe Willy als jemanden erlebt, der immer alle emanzipatorischen Kräfte unter einen Hut bringen wollte. Ob jemand mit einem klassisch marxistischen oder mit einem sozialliberalen Hintergrund dabei war, war ihm egal. Willy war überzeugt, auf der Basis einer Wertegemeinschaft alle vereinen zu können. Das Papier zur Wirtschaftsdemokratie zeigt, dass dies bis zu einem gewissen Grad gelungen ist.
Als junger Juso war ich von Willys grossem Wissen sehr beeindruckt. Er war geradezu ein Lexikon in Sachen Wirtschaftsdemokratie. Er konnte mir aufzeigen, was das Andere nach dem Kapitalismus sein könnte: dass es nicht um ein konkretes planwirtschaftliches Modell geht, sondern dass es hunderte Möglichkeiten gibt. Und dass der Weg zu diesen Alternativen wichtig ist. Zudem konnte er sein Wissen in einer sehr verständlichen Sprache vermitteln und alle mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen mitnehmen. Willy bemühte sich stets, nicht im Habitus und in der Sprache eines Intellektuellen hängen zu bleiben, obwohl er zu den grössten Intellektuellen der Partei gehörte.
Barbara, hast du Ähnliches erfahren?
Barbara Gysi Ja. Als Leiterin der Arbeitsgruppe zur Wirtschaftsdemokratie bin ich Willy wieder begegnet. Seine Inputs, sein Dranbleiben und sein grosses Wissen waren eine enorme Bereicherung. Auch seine Hartnäckigkeit und Genauigkeit, an gewissen Formulierungen dranzubleiben, waren inspirierend – solche Leute brauchen wir! Deshalb ist es ein grosser Verlust für die Partei, dass er nicht mehr bei uns ist und erleben kann, dass wir uns wirklich um die Umsetzung bemühen.
Beim Parteiprogramm hatte Willy bemängelt, dass der Service Public als wichtiger Pfeiler einer Wirtschaftsdemokratie zwar genannt, aber entstandene Hierarchien oder die zunehmende Gewinnorientierung staatlicher Unternehmen nicht kritisch diskutiert werden. Auch die Mitsprache des Personals hätte verstärkt Thema sein müssen.
Barbara Gysi Wenn es um öffentliche Unternehmen geht, muss es immer auch um die Mitsprache und Mitbestimmung des Personals gehen. Das ist ein richtiger und vor allem auch gewerkschaftlicher Anspruch. Aber Wirtschaftsdemokratie geht weit darüber hinaus. Die Bevölkerung braucht ebenfalls ein Mitspracherecht. Bei den Bildungsangeboten etwa ist Mitbestimmung von Schülern und Eltern gefragt. Das finde ich spannend am Prozess der Demokratisierung unserer Wirtschaft – und der Gesellschaft: Wirtschaftsdemokratie ist zwar ein grosses Projekt, beginnt aber im Kleinen. Demokratisierung muss auf sehr verschiedenen Ebenen stattfinden. Wir versuchen, sie alle anzusprechen. Es geht um einen emanzipatorischen Ansatz, darum, Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben in und mit der Gesellschaft zu ermöglichen.
Cédric Wermuth Die Stärke des wirtschaftsdemokratischen Ansatzes ist es, verstehen zu lernen, wie uns die Bürgerlichen die Dichotomie von Staat und Markt aufgedrängt haben. Wie können wir daraus wieder ausbrechen? Die zentralen Widersprüche sind nämlich nicht Staat versus Markt, sondern Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie versus Fremdbestimmung und Macht. Darum ist der Service Public durchaus von links kritisierbar. Dies bringt uns aus der den Service Public ausschliesslich verteidigenden Haltung heraus. Weil aber der Druck auf die Privatisierung des Service Public wieder zugenommen hat, sind wir tagespolitisch gehemmt.
Mir hat Willy Spieler diesbezüglich etwas Zentrales beigebracht: Man muss Demokratie als soziale Praxis verstehen. Als junger Juso dachte ich: Wirtschaftsdemokratie ist so etwas Makroökonomisches. Willy hat aber immer wieder betont, dass auch die Meso- und Mikroebene wichtig sind. Wenn du nicht lernst, deinen eigenen Arbeitsplatz in Auseinandersetzung mit deinen KollegInnen demokratisch einzurichten, bist du nicht fähig, dies auf eine Makroebene zu übertragen. Diesen Geist atmet auch das aktuelle Positionspapier unserer Arbeitsgruppe.
Wie sehen denn die Strukturen an euren Arbeitsplätzen aus?
Barbara Gysi Neben meinem parlamentarischen Mandat bin ich nicht erwerbstätig. Aber ich bin Präsidentin bei verschiedenen Organisationen und versuche dort, bestmöglich zu handeln: Bei einer Stiftung für Menschen mit einer Behinderung habe ich eine Personalkommission etablieren können und versuche derzeit, einen Gesamtarbeitsvertrag auszuhandeln. Es betrifft also betriebsinterne Abläufe, bei denen das Personal mehr einbezogen werden soll. Die Umsetzung gelingt nicht immer gleich gut, aber ich versuche es. Ich will ja nicht Wasser predigen und Wein trinken.
Cédric Wermuth Ich glaube, wir wissen ganz genau, was wir mit Demokratie am Arbeitsplatz meinen. Die Bürgerlichen stellen sich einfach dumm, weil sie es ideologisch nicht wollen. Und auch die Partei läuft Gefahr, das demokratische Prinzip aus den Augen zu verlieren. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Beobachtung: Die gesamte Parteienlandschaft entwickelt sich weg von den Volksparteien hin zu Organisationen von professionellen Mandatsträgern. Das sieht man auch anhand der rückläufigen Mitgliederzahlen. Die Logik der Massenpartei zur demokratischen Kontrolle geht verloren.
… wir waren bei der Konkretisierung.
Cédric Wermuth Die Partei – das ist auch mein Arbeitsplatz! Ein wichtiger. Daneben arbeite ich bei einer Werbeagentur für NGOs. Wir haben relativ flache Hierarchien, die Lohndifferenzen sind entsprechend klein. Ich merke, diese Strukturen entsprechen mir, und ich hätte Mühe, in einem hierarchisch ausgerichteten Betrieb zu arbeiten.
Mitsprache und Verteilung wird bei Genossenschaften demokratisch geregelt. Diese waren für Willy Spieler zentral, um wirtschaftsdemokratische Gesellschaftsentwürfe zu verwirklichen. Die baskische Kooperative Mondragón zeigt, dass ein wohlwollendes Genossenschaftsgesetz ein förderliches Element sein kann. Wie sieht es bei uns aus?
Cédric Wermuth Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass sich in den nächsten Jahren im Parlament viel ändern wird. Und wir müssen die Logik umkehren: Wenn Genossenschaften ein Modell werden, das in der Gesellschaft wieder stärker greift, dann wird auch die Motivation der Politik grösser, auf Gesetzesebene etwas zu ändern. Es ist sehr schwierig, einen gesellschaftlichen Prozess aus dem Parlament heraus zu lancieren – das ist zumindest meine Erfahrung.
Vielleicht müssen wir Politik wieder mehr machen statt darüber reden. Die Alternative selber aufbauen. Die Gewerkschaften haben die Arbeitslosenversicherungen aufgebaut. Warum also heute nicht einfach eine Wohnbaugenossenschaft gründen?! Oder ein Genossenschaftsrestaurant, wie das die SP Zürich diskutiert? Natürlich ist das ein grosser Aufwand. Aber es sollten viel mehr konkrete Modelle entwickelt werden.
»Ein anderes Thema ist das bedingungslose Grundeinkommen. Wäre es eine Möglichkeit, Menschen ausserhalb der Erwerbstätigkeit an wirtschaftsdemokratischen Strukturen partizipieren zu lassen? Für die Abstimmung vom 5. Juni hatte die SP die Nein-Parole herausgegeben, auf euren privaten Webseiten habe ich keine Position dazu gefunden.‘
Barbara Gysi Ich hatte mich im Rat enthalten. Das mache ich relativ selten. Auch wenn es Ansätze gibt, die ich unterstütze, habe ich in der realen Situation das bedingungslose Grundeinkommen als Gefahr für das jetzige Sozialversicherungssystem erachtet. Die allgemeine Erwerbsversicherung als Gegenvorschlag, wie wir es im Parteiprogramm eingebracht haben, finde ich einen besseren Weg. Es ist richtig, dass Wirtschaftsdemokratie den Menschen, die nicht direkt im Arbeitsprozess involviert sind, Chancen der Teilhabe ermöglicht. Eine solche Entwicklung würde das Grundeinkommen aber nicht garantieren.
Cédric Wermuth Für mich ist das bedingungslose Grundeinkommen ein zentraler Bestandteil wirtschaftsdemokratischer Überlegungen. Auch bei einem demokratisch organisierten Unternehmen muss ich als Einzelperson die Möglichkeit haben, zu sagen: «Nein, da mache ich nicht mehr mit.» Entscheidungsfreiheit bedingt Freiheit von ökonomischem und sozialem Druck. Sie wird durch das bedingungslose Grundeinkommen garantiert. Im Parteiprogramm der SP Schweiz steht heute der Begriff der «garantierten Grundsicherung». Das war ein Kompromissantrag von Willy. Er hatte Angst, das Grundeinkommen käme nicht durch. Seine taktische Überlegung war sicher richtig. Ich finde, in der aktuellen Diskussion um die Volksinitiative hat die Partei eine Chance verpasst. Das Denknetz hat sich zum Beispiel intensiv mit Vor- und Nachteilen eines Grundeinkommens auseinander gesetzt und weiterführende Ideen entworfen. Das hätte die SP aufnehmen können.
»Das bedingungslose Grundeinkommen wurde teils von Feministinnen kritisiert. Wie können wirtschaftsdemokratische Strukturen geschlechtlich bedingten Ungleichheiten entgegenwirken?‘
Barbara Gysi Wirtschaftsdemokratie führt zu mehr Transparenz und könnte aufzeigen, wie Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern zustande kommt. Zudem würde unbezahlte Arbeit ein anderes Gewicht bekommen, weil die Care-Frage im Rahmen eines wirtschaftsdemokratischen Ansatzes anders behandelt wird.
Cédric Wermuth Eine sozialdemokratische Partei im 21. Jahrhundert ist feministisch – oder sie ist nicht sozialdemokratisch.
Zum Schluss Die SP richtet sich an den Werten von Gleichheit, Freiheit und Solidarität aus. Willy hätte sich die Menschenwürde als zentralen Ausgangspunkt gewünscht. So stünden der Mensch und seine Arbeit gegenüber dem Kapital im Vordergrund.
Cédric Wermuth Menschenwürde war immer ein umstrittenes Konzept. Wer hat sie, und wer bestimmt darüber, wer sie nicht hat? Für mich ist im Begriff der Gleichheit die Menschenwürde mit dabei. Die unbeschränkte Anerkennung, dass alle Menschen in ihren Rechten und Pflichten gleich sind, ist für mich die Übersetzung des Begriffs Menschenwürde. Ich würde das nicht als Zurückdrängen der Werteebene verstehen, die Willy am Herzen lag. Im Gegenteil. Ich selber bin überzeugter Atheist, aber es gibt wohl kaum eine Strömung innerhalb der Linken, die mir inhaltlich näher liegt als der religiöse Sozialismus eines Willy Spieler.